Haltung

Walter Hermann, was ist für Sie das Wesentliche in Ihrer Arbeit als Psychotherapeut?

Wichtig ist für mich, dass die Therapie ein gemeinsamer Prozess ist, bei dem die Ziele vom Klienten, von der Klientin kommen.

„Ziele“ sind ein wichtiges Stichwort. Viele Menschen, die zu mir kommen, haben eine sehr klare Vorstellung davon, was ihr Problem ist. Wenn ich sie nach ihren Zielen frage, herrscht im ersten Moment oft Sprachlosigkeit. Sehr viele Menschen wissen nicht, was sie wollen. Der erste Schritt ist also, das herauszufinden – und dabei helfe ich meinen Klientinnen und Klienten. Danach begeben wir uns auf eine gemeinsame Reise, bei der ich sozusagen der Experte für den Prozess bin. Experten für die eigenen Ziele sind aber stets die KlientInnen selbst – denn nur sie können wissen, was gut für sie ist.

Diese gemeinsame Reise erlebe ich als ein Eintauchen in ein fremdes Universum. Ich lasse mich dabei bewusst berühren, lasse mich darauf ein, das Leid, den Schmerz und die Not meiner KlientInnen zu spüren.  Dabei muss mein Herz mitschwingen, und ich muss mich selbst ein Stück weit „zurücklassen“, um mein Gegenüber genau dort abholen zu können, wo es gerade steht. Gleichzeitig arbeite ich auf Verstandesebene mit verschiedenen Methoden, um zu strukturieren, systemische Zusammenhänge zu klären und in Richtung Lösung zu gehen.

Das heißt, in der Therapie geht es nicht darum, Probleme zu analysieren oder ihre Ursachen herauszufinden?

Ganz genau – wir arbeiten in der Therapie grundsätzlich systemisch und lösungsorientiert. Das bedeutet, dass wir nicht Probleme und ihre Ursachen ergründen, sondern stattdessen Lösungen als Ziel etablieren und einen gemeinsamen Weg dorthin finden.

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bildet einen Schwerpunkt in Ihrer psychotherapeutischen Praxis. Warum liegen Ihnen diese KlientInnen besonders am Herzen?

Nach meiner Rückkehr von verschiedenen Auslandseinsätzen habe ich die Leitung eines Kinderschutzzentrums in der Nähe von Wien übernommen. In dieser Position wurde mir bewusst, dass mir diese Arbeit Spaß macht und ich dabei das Gefühl habe, etwas sehr Sinnvolles zu tun.

Kinder sind unsere Zukunft. Was man bei ihnen „in Ordnung bringt“, taucht später nicht mehr als Problem auf. Gleichzeitig sind Kinder aber auch die schwächsten Glieder einer Gesellschaft. Sie verdienen besonderen Schutz, Unterstützung und Förderung.

So mancher ist enttäuscht, wenn ich ihm auf die Frage „Was soll ich tun?“ keine klare Antwort gebe. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe besteht darin, den Menschen zu helfen, ihre eigenen Antworten zu finden.

Das Fundament Ihrer therapeutischen Arbeit ist der systemische Ansatz nach Virginia Satir. Können Sie diesen Zugang näher erklären?

Wir Menschen sind Beziehungslebewesen. Ohne Beziehungen können wir nicht leben. Wir sind ständig in Beziehung mit anderen Menschen, sogar mit denen, die bereits verstorben sind. Ändert sich ein Element in diesem Beziehungsgeflecht, so ändert sich das ganze System. Wir können davon ausgehen, dass wir in jedem Moment mit dem gesamten Universum verbunden sind – auch wenn es sich nicht immer so anfühlt.

Damit die Veränderungen am System nachhaltig und für alle Beteiligten förderlich sind, braucht es bestimmte Methoden. Diese kommen im psychotherapeutischen Prozess zum Einsatz.

Dieser systemische Ansatz kommt auch in Ihrer Aufstellungsarbeit zum Tragen.

In der Aufstellungsarbeit machen wir uns unsere unbewussten Vorstellungen von der Welt bewusst, indem wir sie nach Außen projizieren, ob nun am Systembrett, in der Einzelaufstellung oder in der Gruppe. Dadurch bekommen wir Zugang zu diesen Vorstellungen und können durch absichtsvolle Interventionen das System respektvoll und nachhaltig verändern.

Was dabei genau geschieht, ist schwer zu beschreiben – man muss es erleben. Es ist, als würden wir normalerweise wie Schlafwandler durch unser Leben gehen, und plötzlich wachen wir auf und können die Dinge bewusst verändern. Wir leisten Bewusstseinsarbeit auf einer strukturellen Ebene, die uns sonst nicht zugänglich ist.

Auch die Arbeit mit Träumen ist ein Bestandteil Ihrer Arbeit. Wie können wir unsere nächtlichen Träume nutzen, um mehr über uns selbst herauszufinden und unser Leben bewusster zu gestalten?

Im Wesentlichen kann man lernen, die Träume besser zu erinnern. Als nächsten Schritt lernt man, achtsam und ahnungsvoll zuzuhören, was sie einem zu sagen haben. Einen Traum muss man „umrunden“, aus verschiedenen Perspektiven betrachten. In diesem Prozess wird manches klarer – nicht im Sinn einer expliziten Antwort, sondern im Sinne eines ahnungsvollen Verstehens.

Es gibt aber auch Träume, die uns unmissverständliche Hinweise geben, wie etwa „Schau dort hin!“ oder „Lass davon die Finger!“ Manchmal spricht auch unser Selbst klar und deutlich mit uns – wie eine Stimme aus dem Off.

Sie verwenden auch Methoden aus der Neurolinguistischen Programmierung (NLP) und betonen den Realität erschaffenden Aspekt der Sprache. Was genau ist damit gemeint?

Benennung und Formulierung machen die Dinge präsenter, wirklicher. So entstehen Wahrheiten und Inhalte in unserem Bewusstsein. Ich halte meine KlientInnen dazu an, ihre Ressourcen und Lösungen zu benennen und ihnen dadurch Gestalt und Wirklichkeit zu geben.

Jeder von uns hat einen ständigen Kommentator im Kopf. Wenn man sich dessen bewusst wird, kann man neue Gewohnheiten erschaffen und andere Aspekte in den Vordergrund bringen. Viele Menschen wissen gar nicht, was sie alles können, weil sie ständig auf ihre Defizite starren. Wir können den Kommentator sozusagen neu programmieren – weg vom Problem und Defizit, hin zu den Lösungen und Ressourcen.

Sie sind in Vorarlberg geboren und leben und arbeiten in Wien. Ihr Leben hat sie aber auch schon in viele ferne Länder geführt, nicht nur als Reisender, sondern auch im humanitären Einsatz in Krisengebieten. Warum zieht es Sie in die Ferne – und wie haben Ihre Reisen Sie selbst und Ihre Arbeit geprägt?

Wir lernen durch Unterschiede, sie sind die Basis jeder Wahrnehmung. Verlasse ich mein vertrautes Umfeld, so nehme ich im Außen und in mir Unterschiede wahr. Daher heißt es so treffend: Reisen bildet.

Irgendwann war mir Reisen als Tourist zu wenig. Selbst als Rucksacktourist bleibt man stets ein „anderer“, kann den Menschen vor Ort nicht wirklich begegnen. Das war mein Motiv für meine humanitären Einsätze: Ich wollte mit Menschen in anderen Kulturen zusammensein, ihr Leben mit ihnen teilen.

Reisen ist aber auch Abenteuer, erfüllt meine Neugier, und entspricht meinem Bedürfnis, mich zu bewegen. Bewegung ist das Gegenteil von „Feststecken“. Das Reisen ermöglicht mir, mich immer wieder neu zu erleben und zu erfinden, und gleichzeitig festzustellen, was gleich bleibt.

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